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„Erneuerbare sind das Beste, was wir haben können“

Felix Diwok, Geschäftsführer des Energiedienstleistungsunternehmens Inercomp, über die Situation auf den Energiemärkten, die Chancen der Energiewende und über die Notwendigkeit, unsere Konsum- und Mobilitätsgewohnheiten zu überdenken.

Was ist aus Ihrer Sicht im Jahr 2022 auf den Energiemärkten passiert?

Durch die Veränderungen des Gasangebots stiegen 2022 die Marktpreise für Strom extrem. Die Einschränkungen der russischen Lieferungen, die in Wahrheit schon ein Jahr vorher begonnen hatten, machten uns bewusst, dass wir in der EU mit unseren konventionellen Kraftwerken und dem üblichen Angebot an Gas und Kohle in Schwierigkeiten kommen. Gleichzeitig tauchten große neue Marktakteure im Energiehandel auf, die nicht marktrational handelten. Das Aufbauen von strategischen Reserven durch die Regierungen brachte im vergangenen Sommerhalbjahr eine Nachfrage beim Gas, die es vorher nie gegeben und die die Preise in lichte Höhen getrieben hatte. Man darf das aber nicht überbewerten, denn die Volumina, die zu den Höchstpreisen im August gehandelt wurden, waren gering. Es wurde klar, dass die Abhängigkeit von fossiler Energie viel zu groß ist.

Welche Lehren können wir aus diesen Verwerfungen ziehen?

Wir haben in Europa immer noch unter 40 % erneuerbare Energie beim Strom und unter 20 % bei der Gesamtenergie. Wir brauchen eine grundlegende Änderung des Energiesystems. Außerdem wird viel zu wenig darüber nachgedacht, wie wir den Energieverbrauch drastisch senken können. Das ist aber die einzige Möglichkeit, wie wir diese Umstrukturierungsziele erreichen und die Emissionen auf die Zielwerte senken können.

Die hohen Preise auf dem Spotmarkt haben sich ja aus dem Merit-Order-Prinzip ergeben: Das teuerste noch benötigte Kraftwerk, um den aktuellen Bedarf zu decken, bestimmt den Strompreis für alle Anbieter. Würden Sie sagen, dass dieses Prinzip noch sinnvoll und zeitgemäß ist?

Der Sinn des Merit-Order-Prinzips war immer, das ökologisch und ökonomisch beste Kraftwerk einzusetzen. Hohe Preise auf dem Spotmarkt führen zum richtigen Anreiz: zum Energiesparen. Wenn ein teures Gaskraftwerk den Preis bestimmt, dann verschiebt das Merit-Order-Prinzip das Gaskraftwerk an den Rand, das heißt, es kommt am wenigsten Gas zum Einsatz. Mit dem Merit-Order-Prinzip stellen wir sicher, dass die ökologischen Kraftwerke mit ihren niedrigen Grenzkosten zum Einsatz kommen. Gleichzeitig schafft ein hohes Preissignal den Anreiz, in Erneuerbare Energien und in jene Technologien zu investieren, die kein CO2 emittieren.

Wie bewerten Sie denn den CO2-Handel?

Der ist vollkommen in die Hose gegangen. Die Gesetze dafür wurden vor 20 Jahren geschaffen. Wenn in den ersten Jahren des Systems die Preise stiegen, sorgten die Gesetzgeber mit vielen Ausnahmeregelungen dafür, dass die Preise beim CO2-Handel wieder nach unten gingen. Bis zum Jahr 2018 ist nichts passiert, der Preis war viel zu niedrig, um eine Lenkungswirkung zu haben. Wir haben da mehr als 15 Jahre Zeit verloren.

Was haben die Marktverwerfungen für Ihre konkrete Arbeit bei der Energieberatung bedeutet?

Bei den großen Energieverbrauchern waren die Energiekosten, die bisher beispielsweise bei 10 % lagen, plötzlich bei 30 % der Gesamtkosten. Da ging  es bei einigen Unternehmen um Hunderte Millionen von Euro. Genauso war es auf der Vermarktungsseite, auf einmal bezahlte der Markt ein Vielfaches für die angebotene Energie. Dann reagierten die Regierungen mit abfedernden Gesetzen, von Gewinnabschöpfungen bis zu Strompreisdeckeln. Dadurch wurde die Situation immer unübersichtlicher, was auch beim Energieeinsatz zu extremen Verwerfungen führte. Unsere Leistungen wurden plötzlich zwangsläufig zu einer Berechnung von legistischen Vorhaben in vielen Ländern der EU benötigt.

Sind aus Ihrer Sicht die Chancen für den Ausbau von Erneuerbarer Energie größer geworden?

Auf jeden Fall! Wir sehen in den langfristigen Prognosen, dass in Bezug auf die Kostenfrage und beim Thema Versorgungssicherheit die Erneuerbaren das Beste sind, was wir haben können. Aber wenn wir die Energiewende wirklich schaffen wollen, dann brauchen wir auch eine Veränderung auf der Nachfrageseite. Sonst wird das Angebot von Erneuerbarer Energie nicht rasch genug reichen. Wir müssen wesentlich weniger verbrauchen. Wir haben aktuell weltweit einen Verbrauch von ca. 103 Mio. Fass Öl pro Tag und brauchen ca. 8 Mrd. Tonnen Kohle pro Jahr. Wir können das nicht annähernd mit Strom ersetzen und so die Klimakrise in den Griff bekommen.

Was müssen wir denn als Erstes konkret reduzieren?

Wenn wir die gesetzten Klimaziele erreichen wollen, dann müssten wir unser Verhalten konsequent verändern. Das ginge nur mit Vorgaben. Ich habe seit dem Vorjahr großen Respekt vor der Komplexität dieser Aufgabe. Beispielsweise müsste der motorisierte Individualverkehr extrem reduziert werden. Und wir müssten viel weniger Dinge konsumieren, die Energie verbrauchen. Ich will niemandem Vorschriften machen, aber die gesteckten Ziele, also die Klimaneutralität bis 2050, werden wir mit den bisherigen Maßnahmen einfach nicht erreichen können.

Wir haben in Europa immer noch unter 40 % erneuerbare Energie beim Strom und unter 20 % bei der Gesamtenergie. Wir brauchen eine grundlegende Änderung des Energiesystems.

Was denken Sie: Ist die Energiewende mit der Philosophie des stetigen Wirtschaftswachstums überhaupt vereinbar?

Wachstum müsste meiner Meinung nach in den Bereichen stattfinden, in denen wir keine Energie verbrauchen. Wir brauchen ein starkes Wachstum der Erneuerbaren zur Substitution der Fossilen. Die Geschwindigkeit, mit der diese Substitution passieren kann, ist aber so gering, dass das „andere Wachstum“ emissionsärmer sein müsste als in der Vergangenheit. Wie das zu steuern wäre, weiß ich nicht.

Nun sind Erneuerbare Energien volatile Energieformen, das heißt, sie sind vom Wetter abhängig. Gegner der Erneuerbaren malen gern
Szenarien wie Blackouts und Energieknappheit an die Wand. Wird das Thema Energiespeicherung in Zukunft an Bedeutung gewinnen?

Die Wetterabhängigkeit hat es immer schon gegeben, vor allem beim Gas ist die Korrelation zwischen Temperatur und Verbrauch die allerhöchste. Was den Strom betrifft, sehe ich das entspannt. Der Vorteil der Erneuerbaren ist: Sie sind sehr gut prognostizierbar, zwar nicht für die nächste Woche, aber für die nächste und übernächste Stunde. Wenn ein Kohlekraftwerk mit einer Nettoleistung von 1.200 MW ausfällt, ist das problematischer, als wenn etwas weniger Strom aus einem Windpark kommt als prognostiziert. Saisonale Unterschiede bei Bedarf und Angebot sind die Herausforderung. Wie bekommen wir die Energie vom Sommer in den Winter? Speicherung von Strom kann nur die kurzfristigen Engpässe überbrücken. Wir brauchen bei Produkten und Dienstleistungen eine Verschiebung des Verbrauchs. Beim Strom brauchen wir standardisierte Smartmeter, die Anreize für Stromsparen setzen, und keine „Opt-out“-Regelungen für Verbraucher, die zur Folge haben, dass nichts „smart“ steuerbar ist. Auch Power-to-Heat (Umwandlung von Strom in Wärmeenergie) ist sicher ein Zukunftsthema. Aber wir haben in Europa noch viel zu viele fossile Kraftwerke, die wir ersetzen müssen, bevor wir Strom umwandeln und speichern können. Es gibt ja keinen österreichischen Strommarkt, sondern nur einen europäischen.

Ich kann Ihnen zum Schluss den Blick in die Glaskugel nicht ersparen. Was glauben Sie, wie werden sich die Energiemärkte in diesem Jahr entwickeln?

Die Beeinträchtigungen durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine werden die Volatilität hoch halten. Gleichzeitig wird es weiterhin zu legistischen Eingriffen kommen. Beides bedeutet Unsicherheit, und das heißt hohe Volatilität. Wir haben eine Energieknappheit, auch wenn wir in diesem Winter noch ungeschoren davonkommen. Wenn wir die Erneuerbaren und die Netze stark ausbauen, dann haben wir die Chance, wieder eine Volatilität zu bekommen, wie wir sie vor einigen Jahren hatten. Die CO2-Kosten werden jedoch der Schlüssel für die Höhe der Strompreise bleiben, bis das CO2 aus dem Stromsystem größtenteils verschwunden sein wird.

Felix Diwok

Felix Diwok blickt auf rund 25 Jahre Erfahrung im Energiebereich zurück. Im Jahr 2008 hat er die Inercomp in Wien gegründet und führt seitdem das Beratungsunternehmen. Die Schwerpunkte des Unternehmens liegen auf der Betreuung und Beratung von großen Industriekunden in Europa, Energiehandel (Börsen, OTC), Portfoliomanagement (Strom, Gas, CO2 und Zertifikate Erneuerbarer Energie) und qualitativer Research.
www.inercomp.com | www.powerbot-trading.com